Kapitel 12: Wissenschaft aus Mitgefühl

Veröffentlicht am 18. Oktober 2024 um 23:31

Schwalbe Herbert zupfte sich das Gefieder zurecht und nippte an seinem Himbeersaft. Dann schüttelte er sich, so dass sein Gefieder wieder aufplusterte. Eichhörnchen Karl-Heinz knabberte auf seinem Eichelbecher herum, wobei ein wenig Himbeersaft hin und her schwappte. Wo blieb nur Zweistein? Die beiden Waldtiere warteten sehnlichst auf die Nachrichten des Waldkauzes. Gab es Neuigkeiten von der tiermedizinischen Universität, an der Zweisteins Lieblingsmensch nun gemeinsam mit dem jungen Doktoranden Hugo die Studenten unterrichtete? Beim letzten Besuch hatte Zweistein geschildert, dass es einen neuen Kurs in Tierverhalten gab, den Professorin Monika unterrichtete. Ihr Mann und der junge Doktorand hielten hingegen einen freiwilligen Kurs, in dem sie zum Einen über ihre aktuellen Forschungsprojekte über das Meditieren mit Tieren berichteten, zum Anderen brachten sie den Studenten die Techniken der Forschung bei. Der Kurs hatte reges Interesse bei den Studenten geweckt. Der Hörsaal war jedes Mal bis auf die letzte Reihe gefüllt. Wissenschaftliches Recherchieren, Schreiben, korrektes Zitieren gehörte gleichermaßen dazu wie ethische Fragen. Hierauf legten sie großen Wert, denn sie waren der Meinung, dass der ethische Rahmen vor jeder Forschungsfrage festgelegt werden musste. Daran orientierend konnte dann der Rahmen für alles weitere ausgerichtet werden. Das absolute Highlight des Kurses waren aber die praktischen Einheiten. Dann gingen Richard und Hugo mit den Teilnehmern in den nahe gelegenen Wald, meditierten, diskutierten, meditierten erneut und diskutierten dann wieder. Manchmal gesellte sich ein Waldtier zu ihnen. Dann wurden alle ganz still und waren einfach nur da oder übten die Meditation der stillen Begegnung.

 

"Wuhuhuhuuuuu", ertönte es aus der Ferne. Der Eichhornsenior und die kleine Schwalbe horchten auf und hielten inne. Ein Zeit lang war es wieder still. Dann hörten sie leisen Flügelschlag und mit einem Windhauch, der einen Becher Himbersaft auf dem Boden verteilte, schoss Zweistein hinein in das Baumloch, an dessen Rahmen er sich mit den kräftigen Krallen festhielt. Er schüttelte sein Gefieder. "Kein Glitzer mehr, wie schade!" grinste Karl-Heinz. "Witzbold" lachte der Waldkauz. Schwalbe Herbert hüpfte auf und nieder: "Was gibt es Neues?" Zweistein atmete durch: "Och, nicht viel. Man könnte sagen, es ist unaufregend. Die Studenten sind so konzentriert auf die neuen Fächer, dass sie keine Zeit für Hektik oder Pläne haben. Sie sind wirklich voll bei der Sache." Karl-Heinz und Herbert blickten fragend. Zweistein lachte: "Naja, für die Studenten ist das Thema Meditation und Tierverhalten ein komplett neues Thema. Die Verbindung von Wissenschaft und praktischer Erfahrung ebenso. Aber mit Aufregung oder ambitionierten Plänen kommt man nicht weit, so sagt es zumindest unser Lieblingsdoktorand. Also bringt er seinen Studenten die zwecklose Meditation und die sinnlose Wissenschaft bei." "Hääää?" machte Schwalbe Herbert, "Das verstehe ich nun ganz und gar nicht." Zweistein musste erneut lachten: "Unser Lieblingsdoktorand ist zu der Erkenntnis gekommen, dass Menschen eine Tendenz dazu haben, in allem einen Nutzen finden zu wollen. Finden sie eine neue Technik oder machen neue Entdeckungen, dann steht immer die Frage im Raum, was ihnen das bringen kann. Doch dabei bleibt ein Raum verschlossen." Karl-Heinz streckte seine Eichhornnase: "Und das wäre was für ein Raum?" Zweistein schaute in den dunklen Nachthimmel: "Der Raum der Erfahrung. Nur wer absichtslos und unvoreingenommen ist, kann diesen Raum wahrnehmen. Es ist notwendig loszulassen, geschehen zu lassen und nicht zu wissen ob oder was als nächstes passiert oder auch eben nicht. Nur so gelingt es den Menschen, die Stille zu spüren, das Pulsieren des Lebens wahrzunehmen." Herbert legte sein schwarzes Vogelköpfchen schief: "So wie wir es jeden Tag wahrnehmen?" "Ja genau", stimmte der Waldkauz zu, "Die Menschen gehören ja auch zur Natur. Sie gehören zu uns. Nur fällt es ihnen manchmal schwer, dies zu erkennen. Auf der Suche nach einem Sinn oder nach einem Nutzen, geht an ihnen so manch ganz besondere Moment vorbei. Sie wollen so viel wissen, aber das Nicht-Wissen hat auch seinen Zauber."

Der Eichhornsenior schaute fragend: "Menschen sind aber schon irgendwie eigenartig. Mit ihrem Denken scheinen sie manchmal irgendwie weit weg vom Leben zu sein." Zweistein nickte: "Tja, sie können eben mit ihren Gedanken zeitreisen, mal in die Vergangenheit, mal in die Zukunft. Wir können das zwar auch, aber nicht so komplex und nicht so weit wie sie, da sind sie echte Spezialisten. Unser Lieblingsdoktorand meint aber, dass es trotz eines genialen Geistes darauf ankommt, verbunden mit dem Leben zu bleiben. Darum macht er mit den Studenten Übungen, wie sie ins Spüren kommen, um dann Körper, Geist und Seele, wie er es nennt, zu vereinen. Dann könne man richtig gute Forschung machen, also sozusagen eine Wissenschaft aus Mitgefühl ermöglichen." Die kleine Schwalbe flatterte auf. Dann flog der Vogel aufgeregt im Kreis: "Das klingt toll, ja, richtig toll!" Doch plötzlich stutzte er und bremste abruppt ab. Der zweite Becher Himbeersaft ergoss sich auf dem Boden des Baumlochs. Karl-Heinz seufzte. Zweistein sah verzückt auf den verlockend riechenden roten Saft, welcher langsam dahinfloss. Er senkte den Kopf und nippte. "Gut, wirklich gut! Ich sollte Skat lernen, dann kann ich auch diesen leckeren Saft mit euch trinken." "Ähem" räusperte sich die kleine Schwalbe: "Was ich mich frage: Brauchen die Menschen überhaupt Wissenschaft? Wenn sie doch alles erleben können, wozu müssen sie messen und beweisen?" Zweistein hörte enttäuscht auf am Himmbeersaft zu nippen. So etwas Leckeres hatte er schon lange nicht gekostet. Vielleicht konnte er gleich nochmal nippen. "Nun ja, sie sind so gut im Denken und auch im Fantasieren, dass manch einer Sachen erzählt, die vielleicht gar nicht wahr sind. Oder jemand gibt vor, etwas sei so oder so, nur um einen Vorteil hieraus zu ziehen, dabei stimmt es gar nicht. Und dann spielt ihre Fantasie auch mal verrückt. Früher glaubten Menschen zum Beispiel, böse Geister hätte eine ansteckende Krankheit über sie gebracht. Wissenschaftler konnten aber herausfinden, dass kleine Bakterien oder Viren hierfür verantwortlich sind und sie können auch mit ihren Messmethoden herausfinden, welche Maßnahmen hiergegen schützen. Aber so einfach ist auch das nicht, denn jedes Ergebnis ist immer nur ein Teil einer Wahrheit. Das Leben ist auch für die Forscher ziemlich komplex. Aber ich kann euch sagen, auch den Tieren kommt diese Forscherei manchmal zu Gute." Die Waldtiere blickten gespannt. Zweistein fuhr fort: " Monika ist ein gutes Beispiel. Mit ihrer Forschung fanden sie und ihre Kollegen heraus, was Tiere brauchen, um zufrieden zu sein. Ohne ihre Beobachtungen und Untersuchungen wüssten sie heute nicht, dass Katzen keine absoluten Einzelgänger sind, wie die Menschen früher annahmen. Sie jagen zwar alleine, aber in Gemeinschaft mit gleichaltrigen und gleichgeschlechtlichen Katzenpartnern fühlen sie sich oft zufriedener. Hierfür ist Wissenschaft wirklich hilfreich." Schwalbe Herbert flog auf und ab: "Ja, das finde ich gut." Der Waldkauz sprach weiter: "Eine Sache habe ich noch zu berichten. Danach würde ich gerne einfach nur bei Euch sitzen und in die Nacht hinausschauen." Die Skatpartner nickten. "Also, Hugo bringt den Studenten auch bei, die richtige Frage bei ihrer Forschung zu stellen. Er meint, wenn man so etwas wie Meditation untersuche, könne man nicht direkt irgendwelche Effekte messen oder vergleichen. Das, was beim Meditieren alleine, aber vor allem mit Tieren, passiere, sei so individuell, dass es nie in ein Schema passen würde. Aber er sagt, man könne sehr wohl die Frage stellen, ob sich etwas ändert. Und dies probieren die Studenten gerade selbst aus. Sie fragen sich, wie fühlt es sich im normalen Alltags-Modus an und verändert sich etwas, wenn sie meditieren. Das dokumentieren sie dann. Außerdem filmen sie, wenn sie mit Tieren meditieren. Sie wollen nicht zeigen, dass etwas bestimmtes passiert, sondern sie wollen herausfinden, ob sich etwas ändert. Etwas beweisen zu wollen, sagt Hugo, sei eigentlich keine richtige Forschung. Sowas machen nur Leute, die Wissenschaft für einen Zweck nutzen wollen. Wahre Erkenntnisse entstünden hingegen, wenn man an die Wissenschaft genauso herangehe, wie in der Meditation. Absichtslos und offen können die besten Fragen gestellt werden." "Ah ha!", machte Herbert, "Ist mir aber eigentlich egal. Wenn das gut ist, sollen sie machen. Ich bin nur beruhigt, dass dieser Quatsch mit dem Friede-Freude-Eierkuchen-Institut aufgehört hat. Wissen wir eigentlich, was die ehemaligen Wissenschaftler des Instituts jetzt machen?" Zweistein nickte: "Nun ja, ganz sicher weiß ich es nicht. Als ich neulich herumflog, ging dieser Professor in seinem dicken Wattemantel mit den Glitzerbommeln gekleidet gerade über die Straße zu seinem Meditationsinstitut. Ihr wisst doch noch, der Tempel für positive Gehirnwäsche." Die Tiere nickten. "Ich habe von Ratte Moki gehört, dass es noch häufiger dort ist. Es wird gemunkelt, er will nun freier Forscher werden. Das mit den Tieren ist ihm aber zu kompliziert. Er setzt nun auf Wissenschaft mit Menschen. Diese seien leichter zu manipulieren und daher gut für seine Untersuchungen geeignet." Die Tiere schüttelten sich: "So ein Quatsch!" stimmten sie überein. "Aber", meinte Zweistein, "Was können wir machen? Manche Menschen sind so und sie wollen genau das. Wir können nur hoffen, dass sie damit keinen Schaden anrichten. Umso hoffnungsvoller ist dann aber die Wissenschaft der jungen Tiermediziner. Wenn sie Herz und Verstand in ihrer Forschung vereinen, dann können sie wirklich Gutes für Menschen und Tiere tun. Dann haben so verrückte Ideen wie positive Gehirnwäsche einfach keinen Platz mehr, da sie absurd werden. Dafür ist Wissenschaft dann doch ganz gut."

 

"So viele Worte", flüsterte nun Karl-Heinz, "Wollen wir mal für heute zufrieden sein? Kommt, es ist Vollmond. Lasst uns gemeinsam den Abend genießen!"

Sie reihten sich auf vor dem Loch des hohen Baumes. Die kühle Nachtluft kroch ihnen unter das Gefieder oder das buschige Fell. Der Wind blies leise durch die Bäume, an denen noch ein paar Blätter hingen. Der Mond schien hell durch die Wipfel. Zweistein stimmte ein leises "Wuhuhuhuuuu". Schwalbe Herbert gruselte die Nacht. Daher beschloss er, heute bei seinem Freund zu übernachten. Dieser hingegen lag bereits leise schnarchend neben dem Gucklock. Eine Fledermaus flog vorbei, doch nur Zweistein sah sie und grüße leise zurück. "Was für eine fantastische Geschichte" murmelte er in die Nacht. "Aber unterhaltsam" kam es zurück.